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Materialien eines neuen Zeitalters

Internationale Gäste und Forschende des Clusters haben sich an dem Workshop „livMatS as part of and Reaction to the Anthropocene“ beteiligt

Aug 09, 2019

Im Jahr 2000 stellten der Chemiker Paul J. Crutzen und der Biologe Eugene Stoermer die Diagnose eines neuen Erdzeitalters: des Anthropozän. Demzufolge verfügt der Mensch nicht nur über Technologien, die dem Wirken der Natur ebenbürtig sind oder dieses sogar übersteigen. Vielmehr schreibt sich der Mensch unumkehrbar in die Natur ein, so Crutzen und Stoermer. Sie beschreiben eine Verflechtung von Natur und Mensch, Natürlichem und Gemachtem mit komplexen Wechselwirkungen zwischen beiden Sphären. Doch wie genau sieht diese Verflechtung aus, und welche Bedeutung hat sie für die Arbeit des Exzellenzclusters „Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS)?

Internationale Gäste aus verschiedenen Disziplinen von der Bioethik bis hin zur Literaturwissenschaft und Forschende des Clusters haben sich in dem Workshop „livMatS as part of and Reaction to the Anthropocene“ diesen Fragen zwei Tage lang gewidmet. „Wir wollten erreichen, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der vier Research Areas von livMatS über das Thema ins Gespräch kommen“, sagt Dr. Philipp Höfele, der den Workshop mit seinen Kolleginnen und Kollegen der Research Area D organisiert hat. „Zudem wollten wir zeigen, dass livMatS mit der Entwicklung lebensähnlicher Materialsysteme selbst schon eine Reaktion auf das Anthropozän darstellt.“

Auf neuen Wegen

In der Research Area D befassen sich Forschende aus Nachhaltigkeitswissenschaft, Psychologie und Philosophie mit den Materialsystemen, die in livMatS entstehen. Zum einen geht es den Wissenschaftlern um eine Nachhaltigkeitsbewertung der Substanzen, die in den Laboren zum Einsatz kommen, sowie der Materialsysteme selbst. Zum anderen steht ihre Akzeptanz im Mittelpunkt, insbesondere da sich die Systeme adaptiv verhalten, sich also an ihre Umgebung anpassen können.

livMatS geht dabei einen neuen Weg: „Die bisherige Akzeptanzforschung arbeitet mit Demonstratoren, an denen sich untersuchen lässt, wie Menschen sie annehmen. Weil die Materialsysteme von livMatS als Produkt noch nicht existieren, entwickeln wir einen neuen Methodenaparrat, um das herauszufinden“, erklärt die Psychologin Prof. Dr. Andrea Kiesel in ihrem Vortrag „Predicting psychological acceptance for not (yet) existing living materials systems“ am zweiten Tag des Workshops.

Höfele und seine Kollegen aus der Philosophie beschäftigt vor allem der ontologische Aspekt: Wie lassen sich Materialsysteme und deren Funktionen adäquat beschreiben? Zumal wenn gerade nicht mehr statische Eigenschaften erwünscht sind, sondern in Orientierung an der Natur ein adaptives Verhalten erreicht werden soll und somit das Dynamische der Materialsysteme im Vordergrund steht? Hierbei gilt es auch, sich über Grundkonzepte zu verständigen, die bei der Entwicklung eine Rolle spielen. Damit werden den Forschenden aller Research Areas künftig einheitliche Begriffe zur Verfügung stehen, mit denen sie sich über ihre Arbeit verständigen können – und das über disziplinäre Grenzen hinweg.

Verschiedene Konzepte

Denn in der Forschung zu lebensähnlichen Materialsystemen, das machte der Workshop deutlich, kommen in den Fachbereichen unterschiedliche Konzepte zum Tragen. Prof. Dr. Andreas Walther, Chemiker und Koordinator der Research Area B erklärte in seinem Vortrag „What is life in the materials system world?“, dass dies schon allein bei dem Begriff „Leben“ beginne: „In der Biologie definiert man diesen zumeist über die Fähigkeit der Selbstreplikation. Aber letztlich muss man sich im Klaren sein, dass auch die Selbstreplikation durch komplexe, sich selbst-regulierende biochemische Reaktionsnetzwerke gestaltet wird. Wenn es uns gelänge, ähnliche Reaktionsnetzwerke mit selbst-regulierenden Eigenschaften in Materialsysteme einzubauen und diese in der Lage wären, Signale für maßgeschneiderte Antworten zu verarbeiten, dann kämen wir einem lebensähnlichen Verhalten deutlich näher.“

Für Höfele war der Workshop auch aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen der Wissenschaftler ein wichtiger Schritt des Austauschs: „Die Zusammenarbeit im Cluster ist für mich ein ständiges Vertiefen darin, was in den einzelnen Research Areas erforscht wird. Der Workshop hat dabei geholfen, neue Schnittstellen zwischen den einzelnen Disziplinen zu finden, und er hat neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit eröffnet.“

Letztlich möchten Höfele und seine Kollegen auch zur gesamtgesellschaftlichen ethischen Diskussion um neue Technologien im Anthropozän beitragen: „Wir sehen uns in der Research Area D in der Pflicht, die Diskussionen um Ethik und Nachhaltigkeit zu führen und damit auch über das Cluster hinaus zu wirken.“ Die Debatte um das Anthropozän und neue Technologien wird mittlerweile auf breiter gesellschaftlicher Basis von den USA bis hin selbst nach Japan geführt – nicht zuletzt haben die internationalen Gäste des Workshops dies unterstrichen. „livMatS kann im Rahmen dieser Diskussionen ohne Zweifel einen produktiven Beitrag leisten.“