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Eine Sprache für die Spuren zwischen Natur und Technik
Der Mensch ist zum bestimmenden Faktor für seine Umwelt geworden – für dieses Zeitalter modernisiert Lore Hühn die Ur-Fragen der Philosophie
Plastik in den Weltmeeren, chemische Giftstoffe im Grundwasser und andere menschliche Spuren sind allgegenwärtig im so genannten Anthropozän, dem Zeitalter, in dem der Mensch zum bestimmenden Faktor für das globale Ökosystem geworden ist. Das lässt die Grenze zwischen Natürlichem und Künstlichem verschwimmen. Können lebensähnliche Materialsysteme als Phänomene dieser Epoche gelten? Eignen sich solche Materialsysteme gerade deshalb gut, um auf die Probleme im Anthropozän zu reagieren? Und unter welchen Umständen akzeptieren Menschen überhaupt neue Technologien? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Philosophin Prof. Dr. Lore Hühn im Exzellenzcluster livMatS – Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems.
„Tod gibt es bei Materialien nicht“, sagt Lore Hühn vom Philosophischen Seminar der Universität Freiburg. Sind Materialien deshalb unsterblich? Als Mitglied im Exzellenzcluster livMatS reflektiert Hühn von Anfang an philosophisch dessen Ziele: die Entwicklung lebender, anpassungsfähiger und energieautonomer Materialsysteme. „Der Cluster ist hochaktuell, auch weil wir darin klassische philosophische Fragen unter Aspekten unseres Zeitalters, des Anthropozäns, diskutieren.“ Was bedeutet Anpassen, Lernen, Leben bei Materialien? Wann nehmen Menschen solche Neuentwicklungen positiv auf, wann negativ? Wo endet Natur, und wo beginnt Technik? „Diese Ur-Fragen der Naturphilosophie sind Kernfragen unserer Zeit.“ Die Antworten sollen negative Folgen der neuen Technologien vermeiden.
Können Materialien überhaupt leben?
Derzeit arbeitet Hühn an einer sprachlichen Grundlage: „Ich stoße oft auf eine verzerrte Semantik.“ Sprechen Forschende aus den Geisteswissenschaften von „Leben“, verstehen sie darunter meist etwas anderes als jene aus den Naturwissenschaften. Klar ist: Materialien zerbrechen, zerbröseln, zersetzen sich – doch sie sterben nicht. Können Materialien dann überhaupt „leben“, wie es im „living“ von livMatS anklingt? Können sie sich, wie geplant, selbst „heilen“? „Über solche Fragen diskutieren wir in Workshops“, sagt die Philosophin. Beteiligte aus Natur- und Geisteswissenschaften erklären, wie sie Begriffe wie „Autonomie“, „Anpassung“, „Heilen“ oder „Leben“ auslegen. „Eine Überlegung ist beispielsweise, ob wir besser von ‚lebensähnlichen‘ Materialien sprechen“, erklärt die Philosophin. Statt sich zu „heilen“, würden sich die angestrebten Materialsysteme vielleicht einmal selbst „reparieren“.
Zwangsläufig führt die Diskussion zu Ur-Fragen der Philosophie. Wo etwa verläuft die Grenze zwischen Natur und Technik heute? „Im Anthropozän gilt die klassische Trennung nicht mehr“, sagt die Philosophin. Der Begriff „Anthropozän“ bezeichnet die aktuelle geologische Epoche. In dem Begriff steckt das altgriechische Wort für Mensch: Er hat überall und unwiderruflich Fußstapfen hinterlassen – in tiefen Erdschichten, Meeren, Böden, Bergen und der Atmosphäre. Mikroplastik, Nanopartikel und andere künstliche Substanzen finden sich zu Land und zu Wasser in Tieren und Pflanzen. Umgekehrt entwickelt livMatS Materialien mit Eigenschaften, die von der Natur inspiriert und nachhaltig sind. Lassen sich das Natürliche und das Technische, das Belebte und das Unbelebte überhaupt noch scharf gegeneinander abgrenzen?
Plastikkontinente im Pazifik
„Mich beschäftigen auch die ethischen Implikationen“, sagt Hühn. Was verstehen Menschen heute beispielsweise unter „Autonomie“, „Adaptivität“ oder „Natur“? Sind diese Begriffe immer positiv konnotiert und mit angenehmen Vorstellungen verbunden? Verschieben sich ihre Werte und Wertungen, hat das gesellschaftliche Konsequenzen. Dies möglichst früh abzusehen findet Hühn entscheidend: „Es kann in die Katastrophen führen, die uns heute allgegenwärtig vor Augen stehen, wenn die Geisteswissenschaften bei technologischen Entwicklungen außen vor bleiben und nicht von Anfang an dabei sind.“ Sie erinnert an die Plastikkontinente, die im Pazifik treiben: „Die kriegen wir nicht mehr aus dem Meer raus.“ Um ökologische Nachhaltigkeit kümmert sich ein anderes Projekt des Clusters. Hühn interessiert die gesellschaftliche und ethische „Nachhaltigkeit“ – die vielen sozialen Aspekte, die livMatS berührt. Wie zum Beispiel die Akzeptanz einer Technologieentwicklung, in der sich Paradigmen rasant gegenseitig ablösen. Für diese Akzeptanz spielt die Umweltverträglichkeit heute wiederum auch eine Rolle.
„Wir müssen wissen, was in Menschen passiert, wenn wir neue Materialien in die Welt setzen“, betont Hühn. livMatS hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, der Antwort auf diese Frage ein wenig näherzukommen. „In keinem anderen Exzellenzcluster mit einer technischen Ausrichtung haben Geisteswissenschaften eine so starke Stellung.“ Das sei auch ein idealer Nährboden für Nachwuchsförderung. Die Ausbildung baut Brücken, ist interdisziplinär und teils international: Vergangenes Jahr haben die Universität Freiburg und die amerikanische Penn State University gemeinsam ein Zentrum für „Living Multifunctional Material Systems“ gegründet, auch hier soll die Ethik in Kooperationsprojekten ihren Beitrag leisten. Und der Diskurs soll noch weitere Kreise ziehen, sagt Hühn: „Auch mit Japan wollen wir eng zusammenarbeiten.“
Von überholten Dualismen lösen
Hühns Projekte stehen wie alle im jungen Exzellenzcluster noch am Anfang. Neben den Vokabular-Workshops laufen aber bereits intensive Einzelgespräche, Literaturrecherchen und wissenschaftliche Veröffentlichungen. Die Philosophin und ein Postdoktorand aus dem zehnköpfigen Team in der geisteswissenschaftlichen Cluster-Säule erarbeiten, welche verschiedenen Blickwinkel in der Technik, der Biologie und der Philosophie auf die Grenzen des Lebens, der Autonomie oder der Anpassung existieren. Auch aktuelle Bezüge zur Naturphilosophie um 1800 sowie zu den Technikphilosophien Martin Heideggers, Don Ihdes und Peter-Paul Verbeeks will die Gruppe herausstellen.
„Nicht zuletzt möchte ich Grundüberzeugungen innerhalb meines eigenen Fachs kritisch hinterfragen“, sagt Hühn. „Ich habe den Verdacht, dass wir uns anachronistisch an längst überholten Konzeptionen orientieren.“ Ihr Fach klebe an vielen gestrigen Dualismen: „Die meisten dieser Gegensätze sind längst überholt.“ Die Philosophie müsse sich zeitgemäßer und mehr an technischen Innovationen ausrichten, um sich über die großen, erneut brandheißen Themen der Naturphilosophie wieder in die maßgeblichen Debatten der Gegenwart einbringen zu können.
„Wir wollen uns zu diesen Themen belehren lassen und darüber belehren“, sagt Hühn. „Am Ende wünsche ich mir ein Cluster, das sich mit allen Aspekten der Nachhaltigkeit, Ethik und gesellschaftlichen Akzeptanz gut auskennt.“ Dabei unterstützen sie ihre livMatS-Kooperationspartnerinnen und -partner Prof. Dr. Rainer Grießhammer, Prof. Dr. Andrea Kiesel, Prof. Dr. Oliver Müller, Dr. Olga Speck, Dr. Philipp Höfele, Sabrina Livanec, Martin Möller und Lisa Reuter.
Jürgen Schickinger
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