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Vom Vorreiter zum Vorbild für Nachhaltigkeit
Rainer Grießhammer will die Entwicklung neuer Technologien von Anfang an nachhaltiger machen
Welche Vor- und Nachteile haben bestimmte Chemikalien und Materialien? Welche Anwendungen sind technologisch und gesellschaftlich vielversprechend? Am Anfang technologischer Entwicklungen gibt es kaum Daten zu möglichen Nachteilen. Im Exzellenzcluster Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) baut der Nachhaltigkeitsfachmann Prof. Dr. Rainer Grießhammer die Messmethodik „TAPAS“ auf: Sie soll Technologieentwicklung von Beginn an begleiten, bewerten und die Forschenden beraten. Bisher finden solche Bewertungen meistens erst statt, wenn die Produkte schon am Markt und hohe Kosten angefallen sind.
„Wir wollen nachhaltige technologische Entwicklungen von Anfang an auf dem Weg zur Anwendung begleiten und bewerten – das ist neu“, sagt Rainer Grießhammer. Dafür entwickelt er eine Art Barometer und Messmethodik. Der Honorarprofessor für nachhaltige Produkte an der Universität Freiburg und Senior Advisor beim Öko-Institut e.V. baut im Exzellenzcluster livMatS eine Plattform auf. Sie soll dabei helfen, technologische Entwicklungen begleitend und vorausschauend zu bewerten. Dabei geht es um Fragen wie: Welche Vor- und Nachteile haben eingesetzte Chemikalien und Materialien? Welche Anwendungen sind technologisch und gesellschaftlich vielversprechend? Grießhammer geht davon aus, dass die Kolleginnen und Kollegen aus dem Cluster ihre Projekte mit seiner Methodik auf Nachhaltigkeit abklopfen werden: „Aber mein Wunschtraum ist, dass diese Herangehensweise in der Technologieentwicklung allgemein üblich wird.“
Mehr als Umweltfreundlichkeit
TAPAS heißt die Methodik und Plattform zur Nachhaltigkeitsbewertung: Tiered Approach for Prospective Assessment of Benefits and Challenges, auf Deutsch: gestufter Ansatz zur vorausschauenden Bewertung von Nutzen und Herausforderungen. So soll TAPAS beispielsweise dabei helfen, Materialien zu meiden, die für Mensch und Umwelt problematisch sind. Dazu zählen etwa Schwermetalle wie Blei und Quecksilber. Wiederverwertbarkeit ist ebenfalls wichtig bei livMatS, wo viele komplexe Materialsysteme entstehen: Lassen sich deren Komponenten gut trennen und recyceln? TAPAS erfasst aber auch mögliche Umweltentlastungen, etwa durch die Nutzung von Umgebungsenergie.
„Wir konzentrieren uns nicht nur auf Umweltaspekte“, betont der Nachhaltigkeitsexperte. Von der Rohstoffgewinnung über die Herstellung bis zu den fertigen Materialsystemen wird TAPAS auch Kriterien wie Arbeitsschutz, Verbraucherrechte, Menschenrechtsfragen, Akzeptanz und Veränderungen der menschlichen Wertvorstellungen analysieren. Hier fließen viele Ergebnisse ein, die Grießhammers Kooperationspartnerinnen und -partner parallel erarbeiten.
Vom Barometer zur Messmethodik
livMatS zielt auf Anwendungen ab. Deren Beginn markiert aber Grundlagenforschung zu verschiedenen Technologien. „Zu diesem Zeitpunkt können wir bis auf die Gefährlichkeit eingesetzter Chemikalien kaum etwas bewerten, sondern lediglich die richtigen Fragen stellen“, sagt Grießhammer. „Es sind ja nur wenige Daten verfügbar.“ Noch weiß niemand, welche konkreten Anwendungen sich anbahnen könnten. Noch ist unklar, welche Substanzen, von denen in der Grundlagenforschung kleinste Mengen genügen, problematisch werden, wenn Prototypen einmal in Serie gehen.
Auch aus diesem Grund findet eine Bewertung von Technologien meist erst gegen Ende statt, wenn Produkte am Markt sind. Da gibt es zwar quantitative Daten, doch ebenso hat die Entwicklung dann reichlich Grips, Schweiß und Geld gekostet. Dann kommen die Vorschläge zur verbesserten Nachhaltigkeit eigentlich zu spät, sagt Grießhammer: „Technologieanbieter und Hersteller klagen oft: Hättet ihr uns das nicht früher sagen können? Deshalb will TAPAS möglichst zeitig Hinweise und Antworten geben. Auf frühen Projektstufen blickt die Methodik vorsichtig in die Zukunft.“ Hier kann TAPAS nur Frühwarnungen und Richtungsempfehlungen liefern, zum Beispiel: „Achtung – entspricht das verwendete Material den EU-Gesetzen zur Abfall- und Kreislaufwirtschaft?“ In späteren Stadien, sobald mehr Daten zur Verfügung stehen, werden die Ratschläge konkret: So wandelt sich TAPAS stufenweise vom Barometer zum Messinstrument für Nachhaltigkeit.
Fragebogen für die Cluster-Kollegen
Zusammen mit seinem Doktoranden Martin Möller, der auch am Öko-Institut arbeitet, will Grießhammer in den nächsten Jahren eine Beta-Version vorlegen. „Wir entwickeln zuerst die Methodik, dann sukzessive über mehrere Einzeltools eine Plattform“, sagt er. Derzeit hat das Zweierteam schon Prüfraster aufbereitet – auf Basis der RoHS-Richtlinie zu gefährlichen Stoffen für Elektrogeräte, der SVHC-Liste zu besonders besorgniserregenden Chemikalien nach der europäischen REACH-Verordnung und der Indikatoren der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.
Unter den vielen Laborprojekten in livMatS kommt TAPAS eine besondere Querschnittsrolle zu. Die könnte heikel werden, wenn Forschende, die experimentell arbeiten, eine Nachhaltigkeitsbewertung als Hineinregieren von außen empfinden würden. „Das ist nicht der Fall“, betont Grießhammer. Zu Beginn habe er an Forschende des Exzellenzclusters einen ausführlichen Fragebogen zur Grundlagenforschung, zu eingesetzten Materialien und Chemikalien, zur Selbsteinschätzung der Nachhaltigkeit, zu wissenschaftlicher Verantwortung und zu möglichen Konflikten verschickt. „Die Resonanz war überwältigend gut“, sagt er. Fast alle Beteiligten hätten von Anfang an die Notwendigkeit einer gestuften Nachhaltigkeitsbewertung gesehen: „Mit ihr sind wir auf jeden Fall Vorreiter und hoffen, auch zum Vorbild zu werden.“
Parallele Untersuchungen steuern Ergebnisse bei
Bei TAPAS greift Grießhammer teils auf Ergebnisse von Untersuchungen zu, die parallel in livMatS laufen. Prof. Dr. Andrea Kiesel vom Institut für Psychologie betreibt Akzeptanzforschung. Prof. Dr. Lore Hühn vom Philosophischen Seminar setzt sich mit sozialen Aspekten auseinander. Für die ersten Probeläufe von TAPAS stellen zwei Forschende vom Institut für Biologie II livMatS-Prototypen, so genannte „Demonstratoren“, bereit: Dr. Olga Speck, Managerin im Kompetenznetz Biomimetik, und Prof. Dr. Thomas Speck, Direktor des Botanischen Gartens und Leiter der Abteilung Pflanzenbiomechanik und Bionik.
Rainer Grießhammer ist seit 2012 Honorarprofessor an der Universität Freiburg. Am Öko-Institut e.V. arbeitete er seit mehr als drei Jahrzehnten. In dem gemeinnützigen Institut und Verein war Grießhammer schon Mitglied, als er sein Chemiestudium, das in Basel begann, in Tübingen mit der Promotion abschloss. Er hat mehrere Bücher verfasst, wurde mit dem Deutschen Umweltpreis und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 2020 wurde er in das Nationale Begleitgremium für die Endlagersuche berufen.
Jürgen Schickinger