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Die künstliche Falle
Der Botaniker und Biomechaniker Thomas Speck baut Naturprinzipien täuschend echt nach
Inspiriert von der Biologie baut Prof. Dr. Thomas Speck mit künstlichen Materialien natürliche Funktionsprinzipien nach. Meistens müssen die Systeme, die er im Freiburger Exzellenzclusters Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) für Sturzhelme, Roboter und andere Anwendungen entwickelt, aber mehr können als ihre Vorbilder. Speck verleiht ihnen quasi übernatürliche Kräfte. Bei der komplexen Venusfliegenfalle gäbe er sich allerdings mit weniger zufrieden: Da soll der Nachbau vorerst nur in Aussehen und Funktion ununterscheidbar sein.
Pflanzlich oder künstlich, grübelt der Marsianer. Wenn er keine Antwort findet, hat Thomas Speck eines seiner Ziele im Exzellenzcluster livMatS erreicht: „Wir wollen den Turing-Test für Materialien bestehen“, sagt der Botaniker, der am Institut für Biologie II der Universität Freiburg die Abteilung Pflanzenbiomechanik und Bionik leitet und Direktor des Botanischen Gartens ist. Alan Turing war ein britischer Informatiker. „Laut Turing liegt bei Computern dann künstliche Intelligenz vor, wenn sich im Gespräch nicht unterscheiden lässt, ob wir mit Maschinen oder Menschen reden.“ Zusammen mit weiteren Fachleuten baut Speck ohne lebende Materialien eine komplexe pflanzliche Falle nach. Er hofft, dass seine künstliche Venusfliegenfalle bald einen abgewandelten Turing-Test meistert: „Sie soll so echt wirken, dass Marsianer Original und Imitat nicht voneinander unterscheiden können.“
Die Pflanze schmeckt, ob eine Beute passt
Die Fallen der fleischfressenden Pflanze sind ihre Blätter. Deren Hälften klappen in 100 Millisekunden zusammen. „Die Bewegung ist eine der schnellsten im Pflanzenreich und das System eines der komplexesten in der Natur, das ohne zentrale Steuereinheit wie ein Gehirn auskommt“, betont Speck. Den Beutefang regeln ausgefeilte Prozesse. Sie sparen der Pflanze viel Energie. Indem das Sonnentaugewächs die Blatthälften durch Wachstumsprozesse regelrecht auseinander stemmt, bringt es seine Fallen auf Vorspannung – ähnlich wie das Scharfmachen die Feder einer Mausefalle. Der Kraftakt kostet Energie. Geht Beute in eine Falle, schließt sie sich, und Verdauungssäfte fließen hinein. „Die Venusfliegenfalle bildet einen äußeren Magen“, so der Botaniker. Das kostet erneut Energie.
Nur lohnende Happen, aber keine Regentropfen oder Staubkörner dürfen die Fallen auslösen. „Darum müssen Beutetiere innerhalb weniger Sekunden mehrfach eine oder mehrere ihrer Sensorborsten auf dem Blatt auslenken.“ Die Pflanze merke sich den Erstkontakt und warte auf weitere: „Sie besitzt ein mechanisches Gedächtnis.“ Stimmt das Erregungsmuster, sinkt der Wasserdruck in einigen Blattzellen. Die Vorspannung löst sich: Schnapp! Doch erst einmal schließen die Blatthälften unvollständig. Am Rand lassen sie schmale Lücken. Kleine Beutetiere, die den Verdauungsaufwand nicht wert sind, können entkommen. Gefangen bleiben nur dicke Brummer, so der Botaniker: „Die Pflanze schmeckt sozusagen auch, ob eine Beute passend ist.“
Übernatürliche Kräfte
Derzeit erinnern die künstlichen Fallen in den Laboren an gefaltete Papierflieger. Marsianer könnten problemlos echt und falsch voneinander unterscheiden. Allerdings besitzen die Nachbauten schon übernatürliche Fähigkeiten. Das Original kennt nur auf oder zu. Specks Kunstfallen hingegen können sich stufenlos öffnen und schließen. „Dazu haben wir zwei biologische Mechanismen gekoppelt“, sagt Speck. Die Venusfliegenfalle arbeite mit Vorspannung und Änderungen des Wasserdrucks in Zellen: „Dagegen können wir unsere Fallen magnetisch, mit Luftdruck, also pneumatisch, mit einer Kombination aus Wärme und Feuchtigkeit oder durch Materialien mit Formgedächtnis steuern.“ Er spricht von „going beyond biology“ – über die Natur hinausgehen. In livMatS wollen Forschende biologische Prinzipien nicht nur übernehmen, sondern verbessern, erweitern und für neue Anwendungen anpassen.
Speck und seine Freiburger Kooperationsteams vom Institut für Anorganische Chemie der Universität und vom Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE stehen beim Fallensystem noch am Anfang. Doch es ist nur eine von Specks livMatS-Kollaborationen: „Wir bringen da hauptsächlich die Bioinspiration ein.“ Mit Naturprinzipien wie Fallen, funktionellen Oberflächen oder stoßdämpfenden Schalen kennen sich der Botaniker und seine Gruppe bestens aus. Sie haben viele biologische und synthetische Materialien strukturell analysiert und mechanisch getestet. Wertvolles Wissen für den Exzellenzcluster, der sich mit „lebenden, adaptiven und energieautonomen Materialsystemen“ befasst.
Stabiler bei Druck
Forscherinnen und Forscher der Institute für Physik und für Makromolekulare Chemie, der Technischen Fakultät und des Fraunhofer Instituts für Werkstoffmechanik IWM arbeiten mit Speck an formadaptiven Materialien. Von der Schale der Pomelofrucht inspiriert, wollen sie etwa Schutzhelme mit faserverstärkten auxetischen Schäumen ausstatten. Diese werden nicht dünner, wenn örtlich Druck aufkommt, sondern dicker und stabiler. „Sie dämpfen Schläge knapp 25 Prozent besser ab als gleichdickes Styropor“, so Speck. Einige Produkte, die bald auf den Markt kommen, nutzen dieses Naturprinzip bereits. Speck will es durch neue Materialien weiter entwickeln.
Mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von der Technischen Fakultät und dem Institut für Makromolekulare Chemie forscht er an weichen Greifern für so genannte Soft Robots. Die Fachleute wollen flexible Polymersysteme „aufschlauen“. Die interaktiven und lernfähigen Materialien sollen sich selbst an äußere Gegebenheiten anpassen, Sensorik und Motorik vereinen. Soft Robots werden mit entsprechenden Greifern – so der Plan – Bälle nicht nur fangen können, sondern automatisch und autonom deren Beschaffenheit erfühlen. Dazu gehören etwa Masse, Härte und Oberflächenstruktur. Erste Prototypen erwartet Speck in knapp drei Jahren.
„Das sind unsere drei Demonstratoren“, fasst er zusammen. Sie sollen Aufmerksamkeit auf livMatS und seine Forschung lenken. Willkommen wäre etwa, wenn sich die Industrie für konkrete Gemeinschaftsprojekte interessieren würde. Zudem will der Exzellenzcluster zeigen, was sich alles mit cleveren Materialien anstellen lässt – wie bei der künstlichen Venusfliegenfalle. „Wir bauen sie, weil wir es können“, sagt Speck. „Das ist Grundlagenforschung ohne primäre Anwendungsabsicht.“ Überraschend deutet sich aber selbst hier eine Nutzungsmöglichkeit in der Robotik an. Alles fügt sich, alles scheint machbar. Ein Problem wird Thomas Speck beim Fallen-Vorhaben allerdings noch fordern: Wo bekommt er Marsianer für die Tests nach Turing her?
Jürgen Schickinger
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